Essen ist etwas Schönes
Mag. Rahel Jahoda im Interview
Immer mehr Menschen fangen schon in jungen Jahren an, sich um Ihr Gewicht zu sorgen. Die Folge: Magersucht, Bulimie und Co. sind im Vormarsch. Die StadtSpionin hat sich mit Mag. Rahel Jahoda, Expertin und Mitbegründern von intakt, dem Therapiezentrum für Menschen mit Essstörungen, unterhalten. Die einfühlsame Psychotherapeutin, im Nebenberuf auch Restauratorin, arbeitet bereits seit 17 Jahren mit Betroffenen.
Rahel Jahoda, Psycho-therapeutin und Mitbegründerin von intaktStadtSpionin: Man gewinnt den Eindruck, dass immer mehr Menschen von Essstörungen betroffen sind. Wie viele Menschen sind es eigentlich in Österreich?
Rahel Jahoda: Genaue Zahlen kann ich leider nicht nennen. Als ich begonnen habe mit Betroffenen zu arbeiten, das war vor 17 Jahren, gab’s die Zahl 200.000 Menschen mit Essstörungen in Österreich. Diese Zahl wird auch noch heute immer wieder genannt - passt also nicht ganz. Aber es ist eben schwierig, genaue Zahlen zu nennen, weil man nur jene erfassen kann, die im Spital sind oder sich an eine Institution wie intakt wenden.
Und leiden tatsächlich mehr Menschen an Essstörungen. Oder ist die gesellschaftliche Aufmerksamkeit heute eine andere als früher?
Ich glaube schon, dass es einen Anstieg an Essstörungen gibt. Natürlich hat sich auch die Wahrnehmung in Bezug auf das Thema verstärkt. Wir erhalten aktuell immer mehr Anrufe von VolkschullehrerInnen, die uns sagen, dass ein Mädchen in der Klasse anfängt extrem Diät zu halten. Das ist wirklich erschreckend.
Ich erlebe sehr stark, dass Mädchen hier schon in der Schule einem enormen Druck in punkto Schönheitsideale ausgesetzt sind. Ein Mädchen fängt an Diät zu halten, die anderen eifern nach und es entsteht ein regelrechter Wettbewerb.
Das Team von intakt - dem Therapiezentrum für Menschen mit Ess-StörungWenn sogar schon Kinder in der Volksschule betroffen sind - ab welchem Alter treten denn dann Essstörungen auf?
An und für sich in der Pubertät, vor allem Magersucht. Übergewichtige Kinder sind natürlich sehr oft viel früher dran. Das ist die andere Seite des Spektrums. Und Bulimie tritt in der Regel so mit 14 – 16 Jahren auf. Aber wir haben es hier bei Intakt auch durchaus mit älteren Betroffenen zu tun, mit bis zu 50-Jährigen. Früher hatte ich sogar eine 70-jährige Klientin.
Und warum sind Essstörungen im Zunehmen?
Mitverantwortlich sind sicher die heutigen Schönheitsideale, die erfüllt werden wollen. Ich unterscheide allerdings immer zwischen Ursache und Auslöser. Das heißt: Die Ursache ist tieferliegend, der Auslöser ist aber zum Beispiel unser Schönheitsideal. Dem können wir uns ja leider alle nicht entziehen. Auch ich nicht.
Typisch bei allen Betroffenen ist die ständige gedankliche und emotionale Beschäftigung mit dem Thema „Essen“. Welche Formen von Essstörungen gibt es denn genau?
Es gibt die Anorexia Nervosa, die Magersucht. Hier unterscheidet man zwei Typen. Es gibt die restriktive Anorexia Nervosa und den "Binge Purging-Typ". Restriktiv ist jener Typ, wo nichts oder so gut wie nichts gegessen wird. Und beim "Binge Purging-Typ" treten immer wieder Essattacken mit anschließendem Erbrechen auf und im Wechsel wird gehungert.
Also ähnlich wie bei der Bulimie?
Ja, hier ist die Grenze zur Bulimie, der Essbrechsucht, oft schwer zu ziehen. Bei der Bulimie werden Unmengen an Nahrungsmittel hineingestopft, meistens heimlich, und erbrochen oder Abführmittel eingenommen. Also die Grenzen sind manchmal wirklich fließend.
Bei der Bulimie sehen die Betroffenen ja meist normalgewichtig aus. Wie kann man sich diese Ess-Attacken dann vorstellen?
5 x am Tag Essen und Erbrechen als Beispiel. Da wird auch schon mal eine Nudelpackung aufgerissen und die Nudeln roh gegessen, weil es schnell gehen muss. Zum Teil geht es dorthin, dass die Betroffenen Dinge aus dem Papierkorb oder dem Mistkübel suchen und essen. Der Selbstwert ist hier einfach schwer verletzt.
Und was für Gründe oder Auslöser hat dieses Verhalten?
Bei vielen liegt es wirklich in der Kindheit, ein zu wenig an Liebe oder natürlich auch traumatische Erlebnisse. Das reicht von Vernachlässigung bis hin zu sexuellem Missbrauch. Aus dem resultierend ergibt sich dann ein mangelndes Selbstwertgefühl. Manchmal ist es auch eine Überforderung in der Kindheit: für Geschwister zu sorgen und selber nicht Kind sein dürfen. Aber die Gründe sind natürlich ganz unterschiedlich und individuell.
Zurück zur Magersucht. Die Magersucht kann für Betroffene ja bis zum Tod führen. Wie viele hungern sich den tatsächlich zu Tode?
Bei der Magersucht ist es gemäß Literatur so: Für ein Drittel gibt es Heilung, ein Drittel bleibt chronisch krank und ein Drittel stirbt. Und von allen psychiatrischen Krankheiten, denn Essstörungen sind psychiatrische Krankheiten, liegt hier die höchste Sterblichkeitsrate vor. Das wird sehr oft vergessen. Und nicht nur bei der Magersucht, sondern sehr wohl auch bei der Bulimie, die oft zu Herzkreislauferkrankungen führt, vor allem zu Herzerkrankungen. Der Kalium-Haushalt kann so aus dem Ruder laufen, dass es zu einem Herzstillstand kommt.
Wenige wissen, dass auch die Begleiterscheinungen ziemlich dramatisch sind. Was sind typische Folgekrankheiten bei Essstörungen?
Naja, wenn Mädchen sehr früh anfangen, ist natürlich das Wachstum gehemmt. Viele bleiben wirklich klein. Bei der Magersucht bleibt oft die Regel aus. Und später ist oft die Frage Kinder zu kriegen, ein schwieriges Thema. Da es sich um eine Mangelernährung handelt, führt eine Magersucht meistens zu Knochenschwund, Osteoporose. Haarausfall ist ein Thema, Nägel werden weich und brechen. Das sind natürlich Dinge, die sich später wieder regenerieren können. Aber Osteoporose ist eigentlich eine Sache, die normalerweise erst im Alter auftritt und hier erkranken Jugendliche. Und bei Übergewicht, da gibt es ja unterschiedliche Ansätze, wie gesundheitsgefährdend es tatsächlich ist. Es existieren Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen, die übergewichtig sind und Sport machen gesünder sind als Menschen, die normalgewichtig sind und keinen Sport machen. Es geht um den Faktor Bewegung.
Sie haben auch übergewichtige Menschen erwähnt. Heißt das, wenn ich mollig bin, leide ich an einer Essstörung?
Nein, also bei Übergewicht wäre das nur bei der Binge Eating Disorder der Fall. Das ist sozusagen Bulimie, aber ohne Erbrechen, also ohne kompensatorische Maßnahmen.
Beratungszimmer bei intaktLeiden Frustesser an einer Essstörung?
Ich denke, es fängt dort an, wo es für die Betroffenen schwierig wird. Wo sie das Gefühl haben: Ok, ich esse immer dann, wenn ich einsam bin, traurig bin oder zornig.
Wie erkennt man die ersten Anzeichen einer Essstörung? Wann sollten als Mutter oder Freundin die Alarmglocken schrillen?
Wenn man merkt, mein Kind isst nie zuhause mit, dann würde ich sicher hellhörig werden. Wenn es mir immer erzählt, es hat schon in der Schule oder weiß Gott wo gegessen. Wenn es anfängt weitere Kleidung zu tragen oder langärmlige Kleidung, obwohl es draußen warm ist. Wenn also der Körper versteckt wird, dann würde ich das Gespräch suchen. Bei der Bulimie könnten eventuell große Mengen an Nahrungsmittel verschwinden, oder sie beobachten, dass das Kind sofort nach dem Essen den Tisch verlässt. Bei der Binge Eating Disorder ist das Aufnehmen großer Mengen an Nahrungsmittel ein Warnsignal. Es ist wichtig, die Sache einfühlsam anzusprechen, mitzuteilen „Ich mache mir Sorgen“. Eltern sind manchmal in diesen Situationen überfordert, fühlen sich hilflos. Daher gibt es auch hier bei Intakt Hilfe, in Form von Jours-Fix zweimal im Monat. Prinzipiell ist es wichtig, einem Kind zu zeigen, dass es ok ist, so wie es ist. Dass es andere Werte gibt, als nur diese äußeren.
Und wie geht man dann therapeutisch vor?
Es ist so: Bei uns wird mal telefonisch vorangemeldet, ein Erstgespräch vereinbart. Es wird genau geklärt, um welche Art von Essstörung es geht. Enorm wichtig ist neben der Psychotherapie die medizinische Betreuung, die bei uns immer parallel läuft. Wenn es vom medizinischen Standpunkt her ambulant geht, startet dann die Einzeltherapie. Da bieten wir eine große Bandbreite an verschiedensten Therapiemethoden, jene die rein am Essverhalten arbeiten wie die Verhaltenstherapie bis hin zu Ansätzen, die schauen, wo sind die Ursachen, was liegt dahinter. Man kann auch Richtung Körperwahrnehmung gehen oder sich für eine Gruppentherapie entscheiden.
Sie sind Psychotherapeutin. Wie sind Sie eigentlich zur Beratung bezüglich Essstörungen gekommen?
Also ich wollte immer mit Frauen arbeiten. Ich habe lange im Drogenbereich gearbeitet und dann mit Langzeitarbeitslosen. Das war eigentlich immer nur mit Männern. Und dann wurde mir in einer früheren Arbeitsstelle angeboten, ob ich nicht ein Institut für Essstörungen aufbauen will. Das habe ich auch gemacht. Und vor drei Jahren habe ich mit drei Kolleginnen dann Intakt gegründet.
Und gibt es in Ihrem Team auch Therapeutinnen, die selbst betroffen waren?
Ja, gibt’s durchaus.
Wie geht es Ihnen eigentlich mit dem Thema Essen? Den ganzen Tag mit Essstörungen
konfroniert - haben Sie noch Hunger?
(Lacht!) Ohja, ich habe schon noch Hunger. Aber natürlich denke ich oft über Klientinnen oder Klienten nach. Manchmal auch: Wie sehen die Klientinnen, die magersüchtig sind, mich eigentlich? Aber ich kann trotzdem noch genießen. Wobei ich als Kind früher auch nicht gerne gegessen habe. Das hat sich im Laufe der Zeit bei mir entwickelt, dass Essen etwas Schönes ist. Wahrscheinlich könnte ich meinen Beruf hier auch nicht 40 Stunden machen. Ich kann nicht immer sagen, dass ich meine KlientInnen hier lasse. Ich nehme sie schon auch manchmal mit.
Das sind sicher oft einschneidende Erlebnisse?
Natürlich. Wenn ich weiß, es muss z. B. jemand ins Spital oder es geht jemandem gerade ganz schlecht, da mache ich mir Sorgen. Das kann man nicht so leicht abschütteln. Insofern ist es für mich wichtig, dass ich einen Zweitberuf habe: ich restauriere.
Das ist ja etwas völlig Anderes! Ist das Ihr Ursprungsberuf?
Nein, mein Quellenberuf ist schon Psychologin. Aber meine Mutter ist Restauratorin und ich habe immer in den Ferien mitgeholfen. Sie meint immer, ich habe das mit der Muttermilch aufgesogen. Sie hat auf Schloss Schönbrunn mit ehemaligen Studenten ein Institut für Papierrestaurierung gegründet und da arbeite ich mit. Und apropos Essen: Dort ist es zum Beispiel auch immer so, einer kocht und wir sitzen dann alle gemeinsam zusammen und essen. Das ist total fein!
Claudia Heindl
KONTAKT
intakt - Therapiezentrum für Menschen mit Essstörungen
Grundlgasse 5/8. 1090 Wien
01/22 88 770-0
Öffnungszeiten: Mo - Do 9:00 - 17:00 Uhr, Fr 9:00 - 13:00
www.intakt.at
Foto: Brot: Rainer Sturm/pixelio.de
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Gabriele Gottwald-Nathaniel, Leiterin von "gabarage" und Kalksburg
Rahel Jahoda, Therapeutin bei intakt, dem
Zentrum für Ess-Störungen
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Aslihan Atayol, Schmuck-Designerin
Beatrix Patzak, Direktorin des Pathologischen Museums
Lama Palmo, buddhistische Priesterin
Elke Krasny, Stadtforscherin
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Winzerin in Wien
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