Stadtgespräch

  "Jeder Ton braucht Liebe"

Ketevan Sepashvili im Interview

Mit zwei Jahren setzte sie sich ans Klavier, mit neun erlebte sie einen Krieg und mit 25 zählte sie bereits zu den bekanntesten Klavier-Künstlern Georgiens. Heute lebt Ketevan Sepashvili (29) in Wien und begeistert die Zuhörer mit ihrem Temperament und ihrem brillianten Klavierspiel. Die StadtSpionin sprach mit der Künstlerin über Georgien und den richtigen Umgang mit Emotionen.

Ketevan Sepashvili ©Kati StögmüllerStadtSpionin: Stimmt es, dass Sie im Alter von zwei Jahren mit dem Klavierspielen begonnen haben?
Ketevan Sepashvili: Ja. Das war in der Silvesternacht 1982, zwei Wochen vor meinen zweiten Geburtstag. Wir waren im Landhaus meiner Eltern in Georgien und hatten über 20 Leute auf Besuch. Um vier Uhr früh, als alle schliefen, bin ich aufgestanden, ins Zimmer meiner Eltern gegangen, habe den Deckel vom Pianino geöffnet und mit beiden Händen ein georgisches Volkslied am Klavier gespielt. Ich hatte zuvor noch nie eine einzige Taste gedrückt. Das ganze Haus war sofort wach und ziemlich geschockt. Ich bin dann einfach wieder schlafen gegangen, aber am nächsten Tag hat mich meine Familie zum Arzt gebracht, weil sie dachten, dass ich verrückt geworden bin (lacht).
Und was hat der Arzt gesagt?
Dass sie mir einen guten Klavierlehrer suchen sollen.
Gibt es in Ihrer Familie denn viele Musiker?
Nein, keinen einzigen! Aber bei jeder Familie in Georgien steht ein Klavier. Das ist ein unglaublich musikalisches Land! Vor allem die Volksmusik ist eine total reiche Kultur, so vielseitig, so vielfarbig. Und ein Klavier gehört in Georgien sozusagen zum guten Ton.
Haben Ihre Eltern den Rat des Arztes befolgt?
Ja (lacht). Ich habe ja schon im Kindergarten nur davon gesprochen, dass ich Pianistin werden muss und auf der Bühne stehen will. Mein großes Glück war, dass ich von meinem vierten bis zum 18. Lebensjahr bei der bekannten Lehrerin Tamar Phakadze lernen konnte. In diesen 14 Jahren habe ich täglich bei ihr geübt und zusammengerechnet gerade fünf Wochen Ferien gehabt. Das war sehr intensiv. Keine Zeit zum Spielen oder so.
Haben Sie etwas versäumt?
Nein! Ich habe nur etwas gewonnen.

Ketevan SepashviliIn dieser Zeit haben Sie auch den Krieg mit Russland erlebt?
Ja, es fing an, als ich neun war. Plötzlich gab es keine Heizung mehr, kein Wasser, keinen Strom. Und ich musste trotzdem jeden Tag üben. Das war fast nicht zu ertragen. Es war tiefster Winter und ich habe beim Spielen Handschuhe getragen, aber ich habe totale Probleme mit meinen Fingern bekommen, weil es so kalt war. Und meine Eltern haben gehungert, damit wir genug zu essen hatten. Ich werde nie verstehen, wie Nachbarn mit der gleichen Religion, mit der gleichen Lebensweise, sich plötzlich bekriegen und bombardieren können!
Und wie ging es danach weiter?
Meine Familie hat in diesem Krieg vor 15 Jahren alles verloren. Wir waren davor sehr wohlhabend, danach verdiente mein Vater gerade mal 40 Euro im Monat. Das Geld reichte kaum noch, um in die Schule und zurück zu fahren. Mit 17 bin ich dann aufs Konservatorium in Tiflis gegangen. Ich habe in Georgien unglaublich viel gelernt, aber das stand alles in einer bestimmten Tradition. Was mir danach noch fehlte, war die europäische Schule. Und ich hatte das Glück, innerhalb kürzester Zeit ein Stipendium für die Schweiz zu bekommen. Die mitteleuropäische Klassik ist meine Welt. Da fühle ich mich zuhause. In Zürich habe ich meine Studien dann bei Prof. Hans-Jürg Strub beendet.
Bei Ihren Konzerten hat man das Gefühl, dass ab einem gewissen Moment nur noch die Musik da ist, Sie aber nicht mehr.
Wenn ich ein Konzert spiele, gehe ich in die Musik hinein wie durch eine offene Tür. Ich bin in der Musik - und ich spiele nicht mehr, ich höre nur. Wenn das gelingt, ist es ein perfekter Moment.

Ketevan SepashviliSie sind für Ihr temperamentvolles Spiel bekannt. In Ihren Konzerten erwecken Sie, komprimiert auf zwei Stunden, Hunderte Emotionen zum Leben. Wie hält man das aus?
Man darf die Emotionen nicht loslassen. Wenn ich für Haydn alle meine Gefühle, meinen Körper, meine Emotionen loslasse, bin ich danach komplett leer. Egal, ob das Stück zwei Minuten dauert oder eine Stunde. Wichtig ist, dass man die Emotionen richtig einteilt. Wie viel Liebe braucht das Stück, wie viel Traurigkeit, wie viel Melancholie? Wenn ich jedem Stück die richtige Dosierung gebe, kann ich nach dem Konzert auch noch drei Stunden weiterspielen. Denn physisch werde ich nie müde.
Und wie schaffen Sie das körperlich?
Ach, ich spiele acht Stunden täglich und es macht mir nichts aus. Aber es braucht die Liebe zur Musik. Jeder Ton braucht Liebe – ohne geht es nicht. Nur damit erreicht man das Publikum. Es geht mir doch selbst so: Manchmal höre ich ein Konzert und ich denke mir, das war ganz schön, aber schon nach kurzer Zeit kann ich mich an nichts mehr erinnern. Aber an diesen einen Ton aus einer Debussy-Prelude von Radu Lupu werde ich mich ein Leben lang erinnern. Dieser Ton ist direkt in mein Herz gegangen.
Sabine Maier
                                                                                                 

Ketevan Sepashvili www.sepashvili.com

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