Stadtgespräch


Zum Menschsein braucht es kein Expertenwissen

Cecily Corti im Interview

Cecily Corti, geboren 1940 in Wien, wurde für ihr soziales Engagement mehrfach ausgezeichnet. Nach 30 Jahren an der Seite ihres Mannes Axel Corti arbeitete sie vor allem als Therapeutin. 2004 öffnete sie die Pforten zur „VinziRast“, einer Notschlafstelle für Obdachlose, die 2008 um das VinziRast-CortiHaus erweitert wurde. Hier finden Menschen temporär oder auf Dauer ein Zuhause. Heuer folgte „VinziRast mittendrin“, wo ehemals Obdachlose und Studierende gemeinsam in WG's leben. Mit der StadtSpionin sprach die Mutter von drei Söhnen darüber, wie weit bedingungslose Akzeptanz geht und was sie sich von der Asylpolitik wünscht. 

Cecily CortiStadtSpionin: In der Sozialarbeit sind Sie Quereinsteigerin. Wie kam es, dass Sie mit der „VinziRast“ eine Notschlafstelle für Obdachlose eingerichtet haben?
Cecily Corti: Mich haben zwei Fragen immer schon bewegt. Zum einen, was das eigentlich bedeutet, Mensch zu sein. Was meint es, Respekt vor dem Schicksal des anderen zu haben? Der Zustand unserer Welt erschien mir immer unerträglicher. Wie gehen Menschen miteinander um – nicht nur in den persönlichen Beziehungen, auch im Beruf,  in der Straßenbahn, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden, es bei der Supermarktkassa zu langsam geht  oder jemand anders aussieht.  Ich hab mich gefragt: Wie kann ich mich da einbringen?
Ihre Antwort haben Sie bei den Vinziwerken gefunden.
Ja, ich habe Pfarrer Pucher bei einem Vortrag gehört, wie er über seine Vinziwerke in der Steiermark gesprochen hat. Und er hat Leute gesucht, die das auch in Wien umsetzen.
Haben Sie da Ihre Chance gesehen, etwas an der Welt zu verbessern?
Natürlich kann ich nicht die Welt verändern. Aber ich kann in meinem winzig kleinen Bereich etwas tun. Ich wollte einen Raum und eine Atmosphäre schaffen, wo Konflikte nicht gleich in Kränkungen, Verletzungen und Krieg ausarten. Von Anfang an war mein Motto: Sich als Mensch üben. Was macht mich zum Menschen?
In Ihren Einrichtungen wird viel Wert auf dieses respektvolle Miteinander gelegt. Schon auf der Homepage steht: „Unseren Gästen und Bewohnern begegnen wir mit Respekt, wir nehmen sie anwie sie sind.“
Mir ist das sehr wichtig, dass wir den Menschen nicht das Gefühl geben, dass wir besser wissen,  StadtSpionin Wien
Bis zu 60 Menschen finden in der VinziRast-Notschlafstelle eine temporäre Bleibe
wie sie ihr Leben meistern können. Sie sollen sich  willkommen fühlen, wir urteilen nicht über sie. Wir nehmen diese Menschen so an, wie sie sind. Wertschätzung ist die Essenz unserer Arbeit. Ich glaube, dass durch Wertschätzung erst der Eigenwert wachsen kann. Selbstwert ist doch die Voraussetzung, um das eigene Leben verantwortlich in die Hand zu nehmen.
Für 2€ pro Nacht helfen Sie Menschen mit einem Bett, einer angenehmen Atmosphäre und einem warmen Essen.
Mit dem Wort „helfen“ hab’ ich etwas Probleme. Wissen wir überhaupt, wann wir jemandem wirklichhelfen? Ich will nicht, dass darunter  eine falsche Form von Barmherzigkeit verstanden wird.
Was ist verkehrt an der Barmherzigkeit?
Es ist wie beim Mitleid. Das eine wie das andere ist für mich ein falscher Ansatz. Mitgefühl denke ich, ist angebracht. Jemand, der zuhören kann, mir das Gefühl vermittelt, Anteil zu nehmen, der wirklich bei mir ist.
Sie nehmen auch Menschen auf, die in anderen sozialen Institutionen oft nicht unterkommen. Wen betrifft das?
Besonders schwer haben es Menschen aus Ländern, die nicht zur EU gehören. Wenn sie kein Asyl bekommen, tauchen sie oft unter. Wir kümmern uns nicht darum, wir nehmen jeden auf, ob er aus dem Gefängnis kommt oder auf der Flucht ist, ob er Asyl bekommen hat,  StadtSpionin Wien
Innovatives Wohnprojekt: In insgesamt 10 Wohn- Gemeinschaften leben im VinziRast-mittendrin Studierende und ehemalige Obdachlose unter einem Dach
das wissen wir nicht. Viele werden auch in  offiziellen Einrichtungen nicht aufgenommen, wenn sie einen Hund haben oder betrunken sind. Bei uns können sie auch als Pärchen in einem Bett schlafen. Das sind alles Dinge, die meistens nicht toleriert werden. Gerade diese Lücke wollen wir schließen. Mehr nehmen wir uns nicht vor.
Gibt's denn gar keine Regeln?
Doch, es gelten auch in der Notschlafstelle drei Grundregeln: keine Gewalt, kein Spritzen von Drogen und kein Rauchen im Schlafraum. Also alles, was die anderen gefährden kann.
VinziRast finanziert sich über private Spenden, die MitarbeiterInnen sind keine SozialarbeiterInnen, alle arbeiten ehrenamtlich. Das ist sehr ungewöhnlich, haben Sie sich da viel Kritik gefallen lassen müssen?
Nicht wirklich Kritik, mehr starke Vorbehalte. Das kann doch nur scheitern! Das ist doch eine Gruppe von Menschen, mit der auch etablierte Institutionen oft Probleme haben Aber zum Menschsein braucht es doch kein Expertenwissen, meinen wir.
Was hat die Mitmenschlichkeit dem Expertenwissen voraus?
Man macht ganz andere Erfahrungen, wenn man auf seine eigenen Ressourcen als Mensch zurückgreifen muss. Wenn ich immer abrufen kann, was ich gelernt hab’ und welche Regeln es gibt, dann bin ich als Mensch nicht so gefordert.
Im neuen „VinziRast-mittendrin“ befindet sich im Erdgeschoss ein Lokal für alle. Ist das ein Versuch, die Kluft zwischen den sozialen Schichten zu verringern?
Es ist wunderbar, dass in diesem Lokal so unterschiedliche Menschen sitzen. Hier gibt es einfaches, aber gutes Essen. Es ist ein Ort, der Ästhetik und damit auch Würde ausstrahlt. Wenn das ein Platz ist, von dem das Signal ausgeht, dass wir alle zusammengehören, finde ich das besonders schön.
Wie reagiert die Nachbarschaft auf das neue Projekt?
Durchwegs positiv! Und das von Anfang an, wir waren wirklich überrasc StadtSpionin Wien
Stylischer Restaurantzuwachs im Neunten: Im Erdgeschoss lädt das "mittendrin" zum Essen und Verweilen
ht über die Offenheit und Akzeptanz.
Und ganz am Beginn Ihres Engagements? Wie haben die WienerInnen da reagiert?
Am Anfang, vor 10 Jahren bei der Notschlafstelle, bin ich erst mal auf viel Ablehnung gestoßen. Viele Menschen haben wohl oft schlechte Erfahrungen gemacht. Es ist mir extrem wichtig, dass die Nachbarschaft nicht gestört ist. Es ist doch selbstverständlich, dass wir darauf achten, dass keine Lärmbelästigung stattfindet. Wir haben in der Notschlafstelle von Anfang an viel Wert darauf gelegt, dass es hell ist und dass es Blumen gibt und dass es gut riecht. Einmal hat ein Obdachloser zu mir gesagt, dass er nie in Einrichtungen für Obdachlose geht, weil er sich erst dort als Obdachloser fühlt. Das hat mir großen Eindruck gemacht.
Wenn Sie Wien mit anderen Städten vergleichen, wie sehen Sie die Obdachlosen-Problematik hier?
Wenn ich das im Vergleich zu Paris sehe, wo ich einige Monate in einem Frauenhaus arbeiten konnte, dann kann man das im Grunde nicht vergleichen. Dort sind die Probleme enorm, weil unendlich viel mehr Menschen auf der Straße leben. Ich finde grundsätzlich, dass Wien sehr viel zur Verfügung stellt, dass unser soziales System wirklich gut ist.
Auch im Bezug auf die Flüchtlingspolitik?
Nein, das ist ein ganz anderes Thema! Da herrscht nicht nur ein großes Defizit, da herrscht vor allem Angst, die populistisch fremdenfeindlich genützt wird. Das Anprangern liegt mir nicht, aber ich finde dieses Schüren von Animosität ganz furchtbar. Warum fehlen uns mutige Politiker, die die Wahrheit sagen? 
Bis zu seinem Tod waren Sie mit dem Regisseur Axel Corti verheiratet. Haben Sie da das Leben von einer glamouröseren Seite kennengelernt?
Nein, glamourös war mein Leben nie! In meiner Kindheit haben wir schon sehr einfach gelebt. Und auch mein Mann und ich, wir haben sehr sparsam gelebt! Er war ja Künstler und hat Zeit seines Lebens unter Existenzängsten gelitten.
Liegt Ihnen nichts  StadtSpionin Wien
Cecily Corti mit Margit Fischer bei der Eröffnungsfeier von VinziRast-mittendrin
an materiellen Dingen?

Doch, natürlich liebe ich auch schöne und teure Dinge. Aber durch meinen Mann habe ich vor allem die Schönheit in den einfachen Gegenständen kennen und lieben gelernt. Er liebte Antiquitäten, aber er suchte und fand sie nicht in den teuren Läden der Innenstadt, er konnte Stunden bei Trödlern verbringen und kam dann meistens mit einer kleinen Trouvaille nach Hause.
Haben Sie sich denn nie heimisch gefühlt in der Glitzerwelt?
Nein, das war nicht unsere Welt. Natürlich haben wir wichtige Persönlichkeiten gekannt,  das war berufsbedingt. Die „Scheinwelt“ habe ich nie gesucht. In der Konfrontation mit den Menschen in der VinziRast, da erlebe ich eine andere Form von Wirklichkeit. Für mich ist das Leben hier viel wirklicher.
Sie haben einen fordernden Job, zweimal wöchentlich machen Sie auch selbst Nachtdienst in der Notschlafstelle. Wo schalten Sie in Wien am liebsten ab?
Ich bin sehr gerne in meiner Wohnung und ich bin gern in der Stille. Und ich gehe sehr gerne durch nicht allzu bewegte Weinberge oder durch den Wald. Wenn ich Zeit habe, gehe ich in Innenhöfe. Was man da manchmal entdecken kann, wenn so ein Hof offen steht!

Barbara Moser
(Juli 2013)

Fotos
Notschlafstelle: Christian Spiegelfeld
Portrait Cecily Corti: Thule G. Jug
VinziRast-mittendrin: Pez Hejduk
Margit Fischer mit Cecily Corti: Maja Radoslavljevic

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KONTAKT

VinziRast-mittendrin
Lackierergasse 10
1090 Wien

Öffnungszeiten Lokal:
Mo - Fr 10:00 bis 22:00 Uhr.
 
www.vinzirast.at               

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