Es sollte nicht im Hinterhof passieren
Gabriele Gottwald-Nathaniel im Interview
Gabriele Gottwald-Nathaniel (45) wurde für  ihre Arbeit mit Suchtabhängigen im sozialökonomischen Betrieb "gabarage" heuer  zur Wienerin des Jahres gewählt. Sie ist Verwaltungsdirektorin der größten Suchtklinik   Europas, dem Anton Proksch Institut, und Mitbegründerin der Obdachlosenzeitung Augustin.
 
  Die StadtSpionin sprach mit der   Power-Frau, deren Karriere mit einem Schulabbruch begann.
  
Gabriele Gottwald-Nathaniel, Leiterin von gabarage und der Suchtklinik KalksburgStadtSpionin: Die  Design-Produkte von gabarage, der upcycling-Werkstatt in der Schleifmühlgasse, haben in Wien fast schon Kultstatus  erreicht. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, gerade im Design-Bereich ein  Projekt mit ehemaligen Drogenabhängigen zu starten?
   Gabriele Gottwald-Nathaniel: Arbeit im  Suchtbereich heißt für mich drogenpolitische Arbeit. 2002 gab es eine  EU-Gemeinschaftsinitiative, equal 1. Da ging es um die Reintegration besonders  benachteiligter Personengruppen in den Regelarbeitsmarkt. Zu dieser Zeit haben  der damalige Leiter der Drogenabteilung des Anton Proksch Instituts und ich festgestellt,   wir bräuchten etwas für alle jene  Betroffene, die bereits alle „Therapie-Stationen“  durchlaufen haben.  Das heißt: die Leute waren Konsumenten, waren bei  uns in der Beratungsstelle, haben bei uns im Anton Proksch Institut einen  Entzug gemacht, waren in Langzeittherapie und kamen zu uns in die Nachbetreuung. Sie waren zwar clean, aber  was ihnen gefehlt hat, war ein  Arbeitsplatz. Und hier ist das Problem: Menschen auf Langzeittherapiestationen  waren, und sind heute immer noch, von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen  ausgeschlossen.
  Warum  das  denn?
  Weil die Leute davor weder beschäftigt noch arbeitslos waren, sondern aus dem Krankenstand gekommen sind. Und so haben wir das gabarage Konzept entwickelt. Es  sollte ein Projekt sein, das entstigmatisierend wirkt. Es sollte auch nicht  irgendwo im Hinterhof passieren, sondern es sollte auffällig sein. Gemeinsam  mit einer Kollegin bin ich dann im Internet auf  die „Wochenklausur“ gestoßen.
  Was ist die „Wochenklausur“?
  Die „Wochenklausur“  ist eine Künstler-Gruppe, die konkrete Vorschläge zur Verringerung  gesellschaftlicher Defizite entwickelt und diese auch umsetzt. Der Canisibus  zum Beispiel  ist aus so einer  Aktion entstanden. Die  Wochenklausur  kommuniziert unter anderem:  Kulturintervention im Sozialbereich hat auch etwas mit Kultur  zu tun. Ich habe diesen Ansatz sehr spannend gefunden. Und dazu kam die  Thematik Recycling und Upcycling, mit der ich mich auseinandergesetzt habe und  so hat sich dann gabarage herauskristallisiert.  Es sollte, wie gesagt, von vornherein etwas sein, das ganz  klar sichtbar ist. Darum auch das Lokal in der Schleifmühlgasse. Wir hatten  damals allerdings wahnsinniges Glück, weil die Besitzerin eine alte Dame  war, die nicht sehr viel gegen unser Projekt hatte.
  
Das Team von gabarage in der Werkstatt SchleifmühlgasseDas bedeutet,  es war relativ unkompliziert, dieses Projekt in die Realität zu bringen?
    Ich habe mir das Lokal  damals angeschaut und habe innerhalb von einer viertel Stunde den Vorvertrag  unterschrieben. Da wurde nicht mal überprüft, wer wir wirklich sind. Dazu  kam, dass  upcycling damals trendig  wurde. Und ich behaupte auch mal,  dass es ein gewisses Gespür da war: Das ist lässig und spannend.  Vom Finanziellen her ist es allerdings  schon hart. Im Hinblick auf unsere Förderungen, muss gabarage im Jahr 200.000 €  Eigenerlöse erwirtschaften. Das ist wirklich viel und geht nur mit  Großkunden-Kooperationen. gabarage wurde aber auch durchaus kritisch  betrachtet. Im Sinne von: Was ist das? Was bringt das? Was lernen die Leute  dort und können das die Leute überhaupt brauchen?
    
Und erfüllt  das Projekt seinen Zweck? Können die ehemals Suchtabhängigen  wieder im „normalen“ Berufsleben Fuß  fassen?
    Sozialökonomische  Betriebe haben ganz bestimmte Richtlinien und eine davon ist die Vermittlung  auf den ersten Arbeitsmarkt. Außerdem sind unsere Leute nicht einfach nur ein Jahr  bei gabarage beschäftigt, sondern wir haben darüber hinaus ein fünfstufiges  Personalentwicklungskonzept, in dem es darum geht, das zu qualifizieren, was  die Leute bei uns lernen. Wir qualifizieren handwerkliche Tätigkeiten und haben  so circa 6 bis 7 Lehrberufe, die grundsätzlich bei gabarage vertreten sind:  TischlerIn, NäherIn, Bürokaufmann/-frau bis hin zur/zum MetallverarbeiterIn.
    Und die  Design-Ideen von gabarage, stammen die auch von den ehemaligen Drogenabhängigen?
    Ja. Das  ist bei uns von Anfang an das Grundkonzept gewesen. Nicht die Designerinnen  oder Designer kommen, bauen was vor und unsere Leute bauen das dann nach.  Sondern es handelt sich um einen emanzipatorischen Prozess. Es  geht um Produktentwicklung. Wir haben  daher Workshops, wo wir mit DesignerInnen direkt zusammenarbeiten. So wie aktuell mit Michael Hensel, einem  Holzdesigner aus Deutschland oder Yella Hassel, die  an der Modeschule Hetzendorf unterrichtet.
    Das  heißt die Ideen werden gemeinsam mit DesignerInnen entwickelt?
    Genau.  Im Rahmen der Workshops geht es darum, unseren Leuten zum Beispiel beizubringen:  Was kann das Material, wie kann man es verarbeiten, was geht nicht und welche  Ideen können daraus entstehen. Dann nimmt man sich pro Workshop  ein Thema vor. Also einmal sind es  Lampen, dann Schmuck usw. So entsteht ein kreativer Prozess, in dem die DesignerInnen  zwar mit entwickeln und Ideen einbringen, aber die Leute konkret in die  Umsetzung gehen. Und die Leute sind stolz darauf.
    Sie waren ja  auch Mitbegründerin der Obdachlosen-Zeitung „Augustin“. Wie sind Sie auf diese  Idee gekommen?
    
gaba_bijoux - gabarage Schmuck aus  RestteilenDas war ein  Projekt der Sozialakademie. Ich bin Studentin der Freytaggasse gewesen, wo man  Projekte umsetzen musste. Zum Beispiel ist „Streetwork am Karlsplatz“ aus einem  Projekt der Freytaggasse entstanden oder die Wiener Tafel und eben auch der Augustin.  Wir haben uns überlegt, was ist sehr niederschwellige Arbeit, womit obdachlose Leute  zu Geld kommen könnten. Straßenzeitungen hat es in ganz Europa gegeben, nur in  Wien eben nicht. Damals sind wir dann in alle Obdachloseneinrichtungen gegangen.  Und die haben uns anfangs überhaupt nicht geliebt.  In der Gruft hat man uns gesagt: „Na, ihr narrischen  Sozialarbeiter, da fällt euch etwas ein und dann seid‘s wieder weg.“ Wir haben  damals aber auch alle selbst Zeitungen verkauft. Ich habe einfach wenige  Berührungsängste. 
    Sehr spannend  scheint  genau dieser Zugang. Was  unsere Gesellschaft als so genannte Problemfälle kategorisiert, wird in Ihren  Projekten irrelevant. Ehemals Drogenabhängige werden zu Designern, Obdachlose  zu Zeitungsmachern. Woher kommt diese Haltung?
    Für mich ist das  so normal. Das hat sicherlich mit meinem gesellschaftlichen Anspruch zu tun.  Ich denke wir sind eine pluralistische Gesellschaft. Randgruppen haben ein  Anrecht auf Unterstützung und Hilfe.  Aber Randgruppen, egal welche, haben natürlich auch Fähigkeiten.  Was mir immer wieder fehlt, ist die positive Darstellung. Es wir immer nur  defitzitorientiert gearbeitet und mir geht es darum, zu sagen: „Ja, aber die  Leute haben Stärken“.  Außerdem war  ich schon immer neugierig und Herausforderungen haben mich sowieso gereizt.
    Haben Sie  eigentlich eine sehr liberale Erziehung genossen? Liegt hier vielleicht auch  eine Wurzel ihres Zugangs?
    Nein, ich glaube  eine ganz normale. Jetzt muss ich gerade überlegen. Ich bin sicher in einem  Elternhaus aufgewachsen, wo wir sehr viel miteinander geredet haben. Meine  Basis ist, dass ich zu diesen Glücklichen zähle, die Familie erlebt haben.  Obwohl ich ja auch mit 17 die Schule abgebrochen habe und nach Wien gegangen  bin.
    Sie haben ja damals  bei der Musikzeitschrift Rennbahnexpress eine Lehre gemacht?
    Ja.  Ich habe die Handelsakademie  abgebrochen, weil mich das damals einfach nicht mehr interessiert hat und ich  unbedingt weg wollte. Ich bin ja in Niederösterreich aufgewachsen. Ich habe  dann eine Lehre beim Rennbahnexpress, als Bürokauffrau, gemacht. Später mit 23 Jahren  habe ich dann meinen ersten Sohn bekommen, habe daneben immer gearbeitet und mit  27 habe ich dann die Matura nachgeholt.  Mit  28 Jahren, da waren meine Söhne  dann schon beide auf der Welt, habe ich die Sozialakademie begonnen.  
    Und ist Ihre  Tätigkeit als Verwaltungsdirektorin am Anton Proksch Institut heute ihr  Hauptberuf?
    Seit 2 ½ Jahren,  fast 3 Jahren ist das mein Hauptberuf. Also ich bin Verwaltungsdirektorin  des Anton Proksch Instituts und ich  habe ja auch Sozialmanagement an der Donau-Uni studiert. Daher bin ich hier auch  für das Planungs- und Projektmanagement zuständig. Und das was ich sozusagen  in meinen Job mitgenommen habe, das ist  die Leitung von gabarage.
 
    
Das Anton Proksch Institut in Kalksburg, Europas größste SuchtklinikWerden im  Anton Proksch Institut eigentlich alle Arten von Sucht behandelt?
    Das Anton Proksch  Institut ist die größte Suchtklinik in Europa.  Wir  behandeln neben Alkohol- und Drogensucht natürlich auch Internetsucht,  Spielsucht, Kaufsucht,  alles. 
    Wie sehr  unterscheidet sich eigentlich die Therapie bei einer Alkohol- oder Drogensucht  gegenüber  zum Beispiel einer  Spielsucht? 
    Es geht prinzipiell  um sehr starke Verhaltensmodifikationen. Natürlich braucht man mit Internet-  oder Spielsucht etwas anderes, als jemand der alkoholabhängig ist. Bei allen geht es um Ursachenmodifikation. Man muss  auch mit der Aussage vorsichtig sein, die Gesellschaft wird immer süchtiger.  Die Gesellschaft geht mit Konsum heute einfach anders um. Sucht ist eine  Krankheit und nicht jedes auffällige Verhalten ist eine Sucht. Es wird ja  gleich sehr viel kategorisiert. 
    Gründungen  liegen Ihnen ja offensichtlich im Blut. Gibt es Ideen für neue Projekte?
    Es ist ja leider  auch immer eine Frage der Finanzierung. Mittlerweile bin ich ja schon in die  Jahre kommen. Und ich denke mir halt, dass Ideen alleine nicht ausreichen. Was  ich aber zum Beispiel wirklich wünschen würde,  das wäre eine Art Haus-WG, wie in sogenannten  Übergangshäusern, die sehr locker betreut ist  und wo die Leute nach der Therapie, so eine Art  Stabilisierungphase erleben. Man hat Gemeinschaft, geht arbeiten und jemand ist  da, wenn man heimkommt.  Und so etwas  ähnliches, wie das Neunerhaus es umsetzt, fände ich ja auch ganz spannend. Es  wäre toll für Drogenabhängige eine Kombination aus Wohnen,  Arbeiten und Leben bis ins hohe Alter  einzurichten, aber wirklich generationsübergreifend. Denn je besser die  medizinische Versorgung wird, umso älter werden auch die Drogenabhängigen. Das wäre  schon etwas, was in mir noch herumgeistert. 
      
      Claudia Heindl
KONTAKT
gabarage upcycling design
  Schleifmühlgasse 6 
  1040 Wien
 
 www.gabarage.at
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  BISHER ERSCHIENEN
Sophie Frank, Strick-Queen
Seh-Ra Klepits, Gründerin Gibun Tea
Isabell Claus, Gründerin thinkers.ai
Sandra Scheidl, Köchin
Marlene Kelnreiter, Käsemacherin
Doris Pulker-Rohrhofer, Geschäftsführerin Hafen Wien
Lisz Hirn, Philosophin und Publizistin
    
  Carla Lo, Landschaftsarchitektin
Ulli Gladik, Dokumentarfilmemacherin
Katharina Rogenhofer, Sprecherin Klimavolksbegehren
Barbara van Melle, Slow Food-Botschafterin
    
    Ilse Dippmann, Frauenlauf-Gründerin 
    
    Clara Luzia, Singer-Songwriterin    
    
    May-Britt Alróe-Fischer, Leiterin des Modepalast    
    
    Anita Zieher, Schauspielerin & Theatermacherin 
    
  Clara Akinyosoye, Chefredakteurin "fresh"  
Elis Fischer, Krimi-Autorin
    
    Cecily Corti, Obfrau von VinziRast
    
Barbara Glück, Leiterin KZ-Gedenkstätte Mauthausen
  
  Ingrid Mack, Erotikfachfrau und Besitzerin von "Liebenswert"
  
  Petra Jens, Fußgängerbeauftragte 
  
      Ursula Kermer, Gründerin Muu-Design
    
    Nathalie Pernstich, "Babette's"-Inhaberin & Gewürzpäpstin
    
      Stefanie Oberlechner, Donau-Schiffskapitänin
Christine Kintisch, ehemalige Leiterin der BAWAG Contemporary
Anette Beaufays, Leiterin der Art for Art Kostümwerkstätte
    
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Ulli Schmidt, Geschäftsführerin der Wiener Tafel
    Kathi Macheiner, Mode-Designerin "sixxa"
  
  Nuschin Vossoughi, Chefin Theater am Spittelberg
Claudia Krist-Dungl, Geschäftsführerin des Dungl Zentrums Wien
Andrea Brem, Chefin der Frauenhäuser Wien
Christina Zurbrügg, Jodlerin
    
  Gabriele Schor, Leiterin Sammlung Verbund
Frenzi Rigling, Künstlerin
Elisabeth Gürtler, Sacher-Chefin
Margot Schindler, Direktorin des Volkskundemuseums
Friederike Range, Wolfsforscherin
Mercedes Echerer, Schauspielerin
Verena Forstinger, Hoteldirektorin "Style Hotel Radisson"
Karin Troschke, Papierrestauratorin
Gabriele Gottwald-Nathaniel, Leiterin von "gabarage" und Kalksburg
Rahel Jahoda, Therapeutin bei intakt, dem 
    Zentrum  für  Ess-Störungen 
    
  Lisa Muhr, Mode-Designerin "Göttin des Glücks"
Aslihan Atayol, Schmuck-Designerin
Beatrix Patzak, Direktorin des Pathologischen Museums
Lama Palmo, buddhistische Priesterin
Elke Krasny, Stadtforscherin
Ingrid Erb, Bühnen- und Kostümbildnerin
Jutta Ambrositsch, 
    Winzerin in Wien
    
  Monika Buttinger, Designerin "Zojas"
Ketevan Sepashvili, Pianistin
    
  


